Appell zur Überwindung der Sektorengrenzen im Gesundheitssystem 15.07.2024

Zuletzt aktualisiert: 29.07.2024 | Lesedauer: ca. 5 Min.

In einem wegweisenden Vorschlag aus dem Mai 2024 plädiert die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. Diese soll durch den Abbau der Sektorengrenzen im deutschen Gesundheitswesen gewährleistet werden. Dies ist dringend erforderlich, da der Versorgungsbedarfs weiter ansteigt, die Bevölkerung immer älter wird, ein sich weiter verschärfender Fachkräftemangel zu beobachten ist und künftige Kostensteigerungen durch den medizinischen Fortschritt zu erwarten sind. 

Als Grundlage für die angestrebten Veränderungen wird unter anderem der Aufbau eines Primärarztsystems vorgeschlagen. Zudem sollen kleinere Krankenhäuser verstärkt ambulante Leistungen anbieten und eine gemeinsame Planung für den ambulanten und stationären Bereich mit einem Regionalbudget Abhilfe schaffen.

Portrait von Prof. Tom Bschor
Kluge Konzepte zum Umgang mit dem sich weiter verschärfenden Fachkräftemangel sind entscheidend für eine hochqualitative Gesundheitsversorgung der gesamten Bevölkerung in der Zukunft. Hierzu gehört, Behandlungen ambulant, statt vollstationär durchzuführen, den deutschen Sonderweg der doppelten Facharztschiene kritisch zu hinterfragen und die gezielte Behandlungssteuerung im Rahmen eines Primärarztsystems zu fördern.
Prof. Tom Bschor, Leiter der Regierungskommission

Warum ist die Überwindung der Sektorengrenzen im deutschen Gesundheitssystem dringend erforderlich?

Die Sektorengrenzen im deutschen Gesundheitssystem, insbesondere die Trennung zwischen dem stationären Krankenhaussektor und der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung, führen laut der Regierungskommission zu erheblichen Ineffizienzen und Problemen.

Diese Grenzen sind tief im System verwurzelt und würde die optimale Nutzung von Ressourcen behindern. Beispielsweise resultiert aus der ambulant-stationären Trennung eine unzureichende Planungsabstimmung und ein Fehlanreiz zur stationären Behandlung, was in der Folge zu einer hohen Anzahl an Krankenhausbetten und unnötigen stationären Fällen führt.

Das deutsche Gesundheitssystem unterliegt einer Vielzahl von weiteren Grenzen bzw. Sektoren:

  • Stationäre Krankenhausversorgung vs. ambulante vertragsärztliche Versorgung
  • Hausärztliche Versorgung vs. Fachärztliche Versorgung („Doppelte Facharztschiene“)
  • Ärztlicher Bereich vs. Nicht-ärztlicher Bereich 
  • Ambulante vs. stationäre Rehabilitation
  • Leistungen der Krankenversicherung vs. Leistungen der Pflegeversicherung
Die sektoralen Trennungen - insbesondere die ambulant-stationäre Sektorentrennung - erzeugen erhebliche Fehlsteuerungen und weitere Probleme, die zum Teil bereits seit Jahrzehnten benannt werden […]
Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung
Gesundheitsminister Prof. Lauterbach und Prof. Bschor im Sana Klinikum Berlin in Gespräch mit einer Ärztin.

Welche Empfehlungen gibt die Regierungskommission zur Überwindung der Sektorengrenzen?

Die vorgeschlagenen Empfehlungen der Regierungskommission umfassen sowohl kurzfristig umsetzbare Maßnahmen als auch mittel- und langfristige Strategien zur Stärkung der sektorenübergreifenden Versorgung.

Kurzfristige Empfehlungen

  • Aufbau von sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen ("Level Ii-Krankenhäuser"):

Diese Einrichtungen sollen sowohl ambulante als auch stationäre Leistungen erbringen, um eine flexible und bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Die Krankenhäuser werden durch degressive Tagespauschalen finanziert, welches den ökonomischen Druck auf hohe Fallzahlen mindert und die Ambulantisierung fördert.

  • Ausbau der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV gem. § 116b SGB V):

Die ASV soll ausgeweitet werden, um eine breitere medizinische Versorgung sicherzustellen. Dies umfasst die Identifikation und den Abbau administrativer und bürokratischer Hürden sowie die Erweiterung der Indikationen.

  • Aufbau von weiteren Institutsambulanzen nach dem Vorbild der psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA gem. § 118 SGB V):

Institutsambulanzen sollen nach dem Vorbild der psychiatrischen Institutsambulanzen auf weitere Fachbereiche ausgeweitet werden, um eine sektorenübergreifende Versorgung sicherzustellen. 

  • Ausweitung des Hybrid-DRG Leistungskatalogs:

Der Leistungskatalog für Hybrid-DRGs soll erweitert werden, um eine einheitliche Vergütung für ambulant und stationär erbrachte Leistungen zu ermöglichen. 

  • Ausbau des Belegarztsystems:

Das Belegarztsystem, dass es niedergelassenen Ärzt:innen ermöglicht, ihre Patient:innen auch im Krankenhaus zu behandeln, soll gestärkt werden.

Grafische Darstellung der Ziele der Regierungskommission zu denen die gemeinsame Planung von Gesundheitsstrukturen, Reduzierung vollstationärer Behandlungen und der Bürokratie zählen.

Mittel- und langfristige Empfehlungen

  • Aufbau regionaler Gremien unter Landesvorsitz, die ambulante und stationäre Versorgung gemeinsam planen:

Diese Gremien sollen paritätisch besetzt werden, beispielsweise in Anlehnung an den erweiterten Landesausschuss nach § 90a SGB V. Ziel ist eine sektorenübergreifende, harmonisierte Planung der Gesundheitsversorgung in den Regionen.

  • Aufbau eines Primärarztsystems:

Dieses System soll aus Hausärzt:innen, Internist:innen, Pädiater:innen, Gynäkolog:innen und Psychiater:innen etc bestehen und zur Überwindung der „doppelten Facharztschiene“ beitragen. Die Regierungskommission regt an, dass nicht primärärztliche Fachärzt:innen nur noch an oder in Kooperation mit Krankenhäusern tätig sein sollten, um die Effizienz und Qualität der Versorgung zu verbessern.

  • Einschränkung des Arztvorbehalts durch Kompetenzerweiterung für Pflegefachkräfte:

Besonders qualifizierte Pflegefachkräfte, wie Advanced Nurse Practitioner, sollen erweiterte Kompetenzen erhalten. Dies ermöglicht ihnen eine selbstständige und unabhängige Ausführung therapeutischer Maßnahmen vor allem bei chronisch Kranken, was zur Entlastung der Ärzt:innen beiträgt und die Versorgung in ländlichen Regionen verbessert.

  • Vergabe von Regionalbudgets für Versorgungsaufträge:

Diese Budgets sollen für bestimmte Regionen oder Bevölkerungsgruppen vergeben werden, ähnlich wie bei den Modellvorhaben im Bereich Psychiatrie nach § 64b SGB V. Ziel ist es, die Versorgung regional effizienter zu gestalten und präventive Maßnahmen zu fördern.

Portrait Jonas Krumbein

Studentischer Mitarbeiter bei DAS REHAPORTAL